Geduld mit sich selbst
Jeder hat es schon erlebt. An der Kasse im Supermarkt trödelt jemand, während die Minuten bis zum Termin dahinschmelzen. Man hört sich schon innerlich sagen: Hätte ich die blöden Kekse für den Geschäftspartner nicht gekauft, wäre ich pünktlich gewesen. Lieber ohne Kekse zur rechten Zeit als mit Süßkram zu spät. Und dann streikt auch noch die Kasse, alles scheint schiefzugehen. In solchen Momenten soll es Menschen geben, die sich selbst an die Wand klatschen könnten.
„Obwohl ich so gute Absichten hatte, scheint sich alles gegen mich zu richten.“ Das ist die verständliche Interpretation.
Und dennoch bzw. gerade deshalb steht hier die ausdrückliche Einladung zur Geduld mit sich selbst.
Wofür diese Einladung zur Geduld?
Nun, dafür, dass Sie etwas verändern können, wenn Sie von Phänomenen wie aufdringlichen Gedanken, dem Drang nach der Wiederholung von Gedanken und Handlungen usw. zu berichten wissen.
Zwänge loswerden wollen – was machen die Menschen normalerweise?
Am besten sollen die lästigen Gedanken sofort verschwinden. Sagen sich viele. Sofort und für immer (hierzu gibt es hier auch einen Text zum Thema Sicherheit.)
Viele Menschen haben die Erwartung, sie könnten mit einer Art Overnight- oder Express-Bestellung ihren Kopf oder Psyche dazu bewegen, bestimmte Gedanken nicht mehr zu denken oder Verhaltensweisen einzustellen.
Niemand will warten, um eine bedrückende Sache loszuwerden. Also kommt es vor, dass Betroffene dem Thema „Zwänge loswerden“ sinnbildlich ein Blaulicht aufsetzen. Hier. Wichtig. Sofort. Abstellen.
Kann so etwas funktionieren?
Natürlich nicht.
Was passiert, wenn wir uns einen Befehl erteilen?
Das eigene Gehirn reagiert auf innere unfreundliche Anweisungen genauso skeptisch, protestierend und widerstandsbereit wie auf unfreundliche Anreden von anderen Menschen. Zu Recht übrigens.
Wie reagieren wir auf eine unverständliche Anweisung?
Stellen Sie sich vor, jemand spricht Sie auf der Straße an und redet wie wild auf Sie ein. Allerdings in einer Sprache, die Sie nicht verstehen. Während er so auf Sie einredet und wild gestikuliert, tippt er auf seine Armbanduhr. Sie verstehen demnach nur, dass es sich um eine dringende Angelegenheit handelt und dass die Person etwas von Ihnen verlangt. Mehr aber nicht. Was werden Sie tun können? Sie könnten sich abwenden und weggehen. Was aber, wenn die Person Ihnen hinterherläuft und immer aufdringlicher wird?
Finden Sie einen Übersetzer, der unverständliche Anweisungen in freundliche, klare Einladungen verwandelt
Lassen Sie mich der Übersetzer sein. Nehmen wir an, der Fremde aus dem Beispiel wären Sie (aus Sicht Ihres Gehirns) selbst. Wenn Sie in einer fordernden Sprache von Ihrem Gehirn verlangen, es solle Denkprozesse und Assoziationsleistungen abschalten, reagiert Ihre Gehirn aus gesunden Gründen nicht so, wie Sie sich das wünschen. Mit Druck erreichen Sie bei Ihrem Gehirn das Gegenteil. Jeder Umstand, um den es sich gerade dreht, erhält mehr Aufmerksamkeit. Die Abfahrt des Zuges, der in den Urlaub führt. Die bevorstehende Heirat. Das Essen, das vor uns auf dem Tisch steht.
Mentale Energie fließt in die Richtung, in die sich die Aufmerksamkeit ausrichtet. Das ist natürlicherweise auch beim Thema Gedanken, Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen der Fall. Der Inhalt spielt keine Rolle; es kommt allein darauf an, welches Ziel die Aufmerksamkeit anvisiert.
Wenn sich die Aufmerksamkeit auf „Zwänge loswerden“ richtet, bekommen die Zwänge eine große Bedeutung. Für Zwänge und die Anstrengungen mit ihnen gibt es ein inneres Bild. Für „loswerden“ gibt es kein Bild, weil der Vorgang des Loswerdens gewissermaßen neutral ist.
Was „ist“ da, wenn kein Zwang mehr „ist“?
Dafür gibt es kein Bild. Zumindest meistens. Und deshalb ist es kein Ziel, auf das sich ein Gehirn einstellen kann. Wie Zwangsrituale aussehen können und wie sie wirken, dafür gibt es hingegen eine Vielzahl oft dramatischer innerer Bilder. Diese sieht und verstärkt das Gehirn, wenn es Anweisungen zum Thema Zwänge und Loswerden von Zwängen wahrnimmt.
Mehr Aufmerksamkeit = mehr Bedeutung und Vernetzung und Wirkung
An dieser Stelle weise ich noch einmal darauf hin, wie berechenbar und einfach das sonst so komplexe und längst nicht fertig erforschte Gehirn sein kann.
Sinngemäß stellte der Psychologe Donald Olding Hebb schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts fest:
Was (im Gehirn) miteinander feuert, verbindet sich. Man kann auch „lernen“ dazu sagen:
Neurons that fire together, wire together. Neurons that wire together, fire together.
Es leuchtet ein, dass Zwangsunterdrückungsversuche unter Berücksichtigung dieser Tatsachen niemals dauerhaft funktionieren können.
Und nun endlich zur Geduld
Warum ist Geduld im Zusammenhang mit Zwangsvorstellungen und Zwängen elementar wichtig? Weil Geduld die Grundvoraussetzung für langfristige Veränderungen ist.
Die wichtigste Hürde im Zusammenhang mit dem Ablegen von Zwangsgedanken und dem Ausstieg aus dem Konzept von den Zwängen ist erstaunlicherweise nicht die Vorstellungskraft.
Die Klienten in der Praxis sind sehr schnell darin, Zielvorstellungen von dem zu entwickeln, was sein wird, wenn die Zwänge nachlassen. Sie setzen in der Regel auch die ersten Schritte zur Veränderung von Zwängen rasch um.
Nach einem Tag oder ein paar Tagen aber kann es sein, dass der Wunsch aufkommt, es möge nun endlich und für immer Schluss sein mit den Zwängen. Damit produzieren die Klienten Stress – und stabilisieren ungewollt das Wiederauftreten der Zwänge.
Geduld ist der Preis für einen süßen Lohn
Speziell nach den ersten Metern, die den Start in eine Veränderung darstellen, sind vermeintliche Rückschritte völlig normal. Es ist gut, sich das schon vor den ersten Veränderungen klar zu machen. Aller Anfang ist gar nicht so schwer – das Dranbleiben und das Weitermachen haben es oft in sich.
Ich kann Ihnen aus Erfahrung sagen: So gut wie alle Klientinnen und Klienten berichten nach dem ersten Auf von einem Ab. So lange das alte Muster noch im wesentlichen besteht, kommt es zu einem Hin und Her und Auf und Ab.
Bleiben Sie gerade dann geduldig und zuversichtlich.